EIN LIED

Menschen müssen meistens zur Arbeit fahren oder zum Einkaufen oder in die Schule oder in die Uni oder wieder zurück oder einfach nur so. Das führt schon mal zu unfreiwillig-kuscheligen Zuständen auf einschlägigen U-Bahn-Linien. So sitzt man sich heimelig in Viererblöcken gegenüber, die Beine keck aneinander vorbei gewinkelt und schaut selbst im Tunnel noch hochinteressiert aus dem Fenster. Wenn man großes Glück hat. Wenn nicht, steht man in den engen Gängen oder vorzugsweise gebündelt an der Tür, und ist überaus bemüht, namentlich den sitzenden Menschen weder das eigene Hinterteil, noch Hüfte oder Rucksack gegen den Kopf zu schwenken. Was nicht immer einwandfrei gelingt, zumal sich die Bahn mitunter recht unsanft bewegt und die Spezies der fellfreien Zweibeiner für diese Art stehender Fortbewegung nur bedingt geeignet ist.

Bei näherem Hinsehen fällt auf, dass scheinbar die Mehrheit der Reisenden mal mit kleinen Ohrknöpfchen, mal mit überdimensionierten und an halbierte Pampelmusen erinnernden Dröhnschälchen ausgestattet ist. Mit leicht autistischem Blick lauscht man kollektiv und dann doch ganz un-kollektiv der ganz eigenen Mixtur aus Klängen. Ich nehme mich da keineswegs heraus. Je nach Stimmung und nach Grad der gewünschten Distanzierung von der Welt da draußen fahre ich durch die Welt, den verschiedensten Klängen und Worten und Stimmen selig lauschend.

So auch neulich. Ich lauschte einem besonders schönen Lied und tauchte ohne zu wissen warum zwischenzeitlich aus meiner Versunkenheit auf. In diesem Moment traf mein Blick jenen eines Mitreisenden. Und irgendetwas stimmte hier nicht. Es brauchte eine Weile, aber dann verstand ich: die Lippen mir gegenüber formten die Worte zu eben dem Lied, das ich mir gerade anhörte! Und zwar synchron und fehlerlos! Ich nahm sofort meine Ohrstöpsel heraus, um zu überprüfen, ob mein Lied vielleicht versehentlich laut durch den Wagen schallt, aber nein, nichts war zu hören. Der Reisende sah mir in die Augen, lächelte fast unmerklich und sang weiter stumm mein Lied mit. Da bemerkte ich, dass eine weitere Person, zu exakt, um zufällig zu sein, den Takt des Liedes mitwippte. Und zwei andere gaben plötzlich den Background-Chor. Tatsächlich, der ganze Wagen schien begeistert diesem einen Lied zu lauschen, es sogar selbst zu verkörpern.

Ich nahm die Ohrstöpsel abermals heraus und alle Reisenden hatten eingestimmt und sagen, klatschten, schnalzten, wippten, so dass es eine wundervolle Neuauflage des an sich schon wundervollen Liedes gab. Man sah sich an, man lächelte sogar!

Als wir zur nächsten Haltestelle kamen, tanze dieser riesengroße bunt gemischte a-capella-Chor geschlossen auf die Straße und plötzlich angesteckt stimmten die Passanten ein, sangen, lachten, tanzten wie in einem kitschigen Film oder einem Prospekt der Zeugen Jehovas. Innerhalb weniger Minuten zog sich das Lied durch die gesamte Stadt. Die Schallwelle war so groß, dass sie die tief hängenden Wolken zerriss. Die Sonne schien.

 

 

INTERMEZZO

Ist das jetzt schon Liebe

oder nur Stuhldrang?