Regen!
Dachte sie. Regen, Regen, Regen. Seit einer Woche war sie auf ihrer geliebten Insel, und alles, was sie sich vorgestellt hatte, wurde buchstäblich hinweggeschwemmt. Sie träumte davon, an den Dünen zu sitzen und zu lesen, zu schreiben, in der Einsamkeit mit Tinte und Papier. Endlich mal wieder im Meer zu baden, den Schatten zu suchen, spät abends noch mit einem Glas Wein in der lauen Sommerluft zu sitzen. Sie träumte von im Wind flatternden Sommerkleidern, den Duft von Sonnencreme auf der warmen Haut. So lange schon hatte sie sich auf diese Zeit gefreut. Statt dessen nun Regen, immerzu Regen. Matschige Wege, kalte Füße. Heißer Tee, ja, diese Art melancholischer Gemütlichkeit wusste sie durchaus zu schätzen. Aber irgendwann schlägt sie um in gebremsten Tatendrang, im klamme Kleidung, den Muff trocknender Capes und Schirme. Strand im Regen ist wunderbar, anfangs. Regenspaziergänge. Das einzig Trockene waren aber inzwischen ihre Sommerkleider im Schrank der schönen kleinen Unterkunft, die sie auserkoren hatte als ihre Refugium im Nichts, in Wind und Stille und dem betörenden Lärm des Windes und des Meeres und dem Gesang der Vögel. Kaum jemand verirrte sich in diese Ecke der Insel, nur ab und zu gingen auf dem Weg vor ihrem Fenster gut verpackte Spaziergänger vorbei, selten sah man mal ein Fahrrad. Natürlich, es war nicht Italien. Es war der raue Norden mit seiner Unberechenbarkeit, seinen Ecken und Kanten und Überraschungen. Das wusste sie schließlich vorher.     
Diese Insel hatte einen besonderen Zauber. Einmal betreten, noch bevor die Fähre wieder ablegt und mit rückkehrenden Gästen und allerlei Fracht den Rückweg zum Festland antritt, fällt man in eines dieser seligen Zeitlöcher, ist man wieder Kind, nur freier nun, mit demselben Glücksgefühl der ewigen Sommerferien im Bauch. Das Leben besteht nur noch aus Wind, Eis, Muscheln und jeden Abend Spaghetti. Die Uhren scheinen langsamer zu gehen, vielleicht stehen sie sogar für eine Weile still. Nur sagt einem nun niemand mehr, wann man ins Bett gehen muss. – So dachte sie lächelnd, während sie aus dem Fenster blickte und der Regen die Fensterscheiben hinab rann wie eine flatternde, verwaschene Girlande. Hinter der Girlande passierte nicht viel. Kaum jemand wagte sich bei diesem Wetter hinaus, sicher nicht ohne fordernden Hund an der Leine, der dann später klamm im Zimmer vor sich hin dampfen würde.      
Nur eine Gestalt, immer in einem grünen Cape, keinem Regencape, wie man es kannte, mehr einem altertümlich anmutenden Gewand, smaragdgrün, passierte verlässlich das verschwommene Fenster. Eine Frau, obwohl nie wirklich zu erkennen, war es ganz sicher eine Frau, die sich wie ein Geist auf eigenartige Weise fast irreal am Fenster vorbei bewegte. Nicht schnell, nicht langsam. Nie sah sie zum Fenster. Ihr Gang war aufrecht, trotz des Umhanges, dessen sehr große Kapuze ihren Kopf verdeckte. Sie lief barfuß, jederzeit, aber ihre kleinen Füße schienen dennoch  immer sauber zu sein, als könne ihnen der Regen und der schlammige Weg nichts anhaben. Jetzt, als sie darüber nachdachte, kam ihr die Gestalt der seltsamen Spaziergängerin vor, als ginge sie nur für sie diesen Weg, als gäbe es eine stille Aufforderung, ihr zu folgen. Konnte das sein? Oder hatte sie zu viele Bücher gelesen, zu viel Phantasie und vielleicht auch zu viel Langeweile dort im Trockenen hinter ihrem Fenster? Nein, das ist doch blanker Unsinn, dachte sie. Sie ging weg vom Fenster und befüllte den Wasserkocher. Ein schöner, starker Tee hilft immer aus verworrenen Gedanken. Und auch, wenn die geheimnisvolle Frau, die aus einer anderen Zeit zu kommen schien, ihr nicht mehr aus dem Kopf ging, schaute sie nicht mehr zum Fenster, sondern nur noch auf die Teekanne, die sie mit den schwarzbraunen Blättern befüllte, während der Wasserkocher schon begann, lautstark  rauschend seine Arbeit zu tun.     
Am nächsten Tag regnete es wieder und weiter, als habe der Sommer sich eine Pause gegönnt und sei er die ewigen Erwartungen der dummen kleinen Menschen gründlich leid, die immerzu etwas von ihm wollten. Sonne, Wärme, aber hier nicht zu viel, dort nicht zu wenig. Regen gern nur nachts, aber dann gern viel, abends bitte nicht zu heiß, aber warm genug zum draußen sitzen. Was der Sommer auch tat, irgendjemand fand es immer falsch. Also fand er es wohl ratsam, sich eine Weile zurück zu ziehen und mit dem Winter Mau-Mau zu spielen.          
Nasse Fenster, nasse Wege, Grau in Grau in Grau, selbst über dem satten Grün schien ein Grauschleier zu liegen. Wenig motiviert öffnete sie das Fenster, um sich von der frischen Luft überzeugen zu lassen, doch vielleicht einmal  wieder hinaus zu gehen. Aber statt sich anzuziehen, stand sie gedankenverloren am Fenster, starrte in die Weite – oder wartete sie? Nach einer Weile meinte sie, eine vage Bewegung auf dem langen Weg erkennen zu können und tatsächlich, die grüne Gestalt näherte sich wieder. Nun erschien es ihr, als hätte sie eine Verabredung, als sei sie nicht zufällig ans Fenster getreten. Trotz der feuchten Kälte, die schon unangenehm unter ihre Kleidung kroch, blieb sie am offenen Fenster stehen, bekam hier und da  Regentropfen auf den Kopf, die Arme, die Brust – aber sie musste warten. Erstaunlich schnell und doch mit einer ganz eigenen Langsamkeit kam die Gestalt näher, bis sie schließlich auf Höhe des Fensters war und wie selbstverständlich stehen blieb. Sie stand dort, ohne den Blick zu ändern, schaute nach vorne, als würde sie horchen. Dann, scheinbar ganz ohne Grund, drehte sie den Kopf zur Seite, zum Fenster, so dass zum ersten Mal ihr Gesicht zu sehen war, das zuvor immer durch die Kapuze fast vollständig verdeckt war. Ihr Gesicht wirkte jung, aber etwas sagte ihr, dass sie so jung nicht war. Die Gesichtszüge waren ebenmäßig, wie aus einem Gemälde alter Meister. Große, grün-blaue Augen sahen zum Fenster und ihre Blicke trafen sich, staunend, wohlgesonnen. Ein leises Lächeln umspülte den Mund der fremden Frau – dann sah sie wieder nach vorn und ging im gleichen, schwebenden Gang weiter den Weg entlang, bis sie immer kleiner wurde und schließlich nicht mehr war als ein weiterer vager Punkt am Horizont.           
Noch immer stand sie am offenen Fenster, nun bald schon sehr nass, als sei sie ohne Mantel oder Schirm im Regen spazieren gegangen. Der Blick der Wanderin blieb wie eingebrannt in ihren Gedanken und sie fühlte sich ihr auf eine seltsame Weise verbunden. Und noch etwas meinte sie, wahrgenommen zu haben, obwohl sie sich nicht sicher war, ob es nur der Wind war oder gar ein Geräusch in ihrem Kopf. Je näher die grüne Frau kam, desto klarer meinte sie, eine leise Melodie zu hören. Hatte sie tatsächlich etwas gesummt? Woher kam diese leise, hohe, klare Stimme – gab es sie überhaupt? Sie beschloss, dass sie seltsame Begegnung und das Pfeifen des Windes ihre Phantasie allzu sehr beflügelt hatte.   
Nachdem sie das Fenster geschlossen und die Fensterbank mit einem großen Handtuch trockengewischt hatte, ging sie ins Bad, föhnte sich die Haare, zog sich trockene Kleider an und sah lange in ihr Spiegelbild, als sei etwas nicht mehr richtig darin. Als schwinge etwas mit in ihrem Blick, in ihren Augen, was sie jetzt noch nicht recht zu fassen imstande war.     
Die nächsten Tage mied sie das Fenster, mied sie den Blick hinaus, und nur, wenn ab und zu mal für eine kurze Zeit die Sonne schien, ging sie vor die Tür. Sie lenkte sich ab, las viel, schrieb Briefe, erfand Rezepte und genoss die freie Zeit im Jahr, für die sie sich so sehr Sonne und Wärme gewünscht hatte und die nun so verregnet war, wie sie es nie zuvor erlebt hatte. Die geheimnisvolle Frau, ihr Blick, die blau-grünen Augen gingen ihr jedoch nie ganz aus dem Kopf, sie begleiteten sie in all ihrem Tun und bis in den Schlaf hinein.  
Dann kam der Regen zurück, durchgehend, gnadenlos, und mit ihm das Grau, das sich über alles legte und all die zaghaften Farben des Sommers wieder verblassen ließ. Gestärkt vom Licht der vergangenen Tage hüllte sie sich in Schichten aus Stoff und Wolle, warf ihr blaues Regencape über und quälte sich in ihre gepunkteten Gummistiefel. Draußen sei es immer heller als drinnen, sagen alle. Also hinaus, hinaus!          
Noch bevor sie die Tür öffnete, nahm sie wieder dieses besondere Summen wahr, diese betörende kleine Musik, als kenne dieser Klang keine Barrieren. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen und einen Moment stand sie regungslos vor der verschlossenen Tür, fasste sich, fasste Mut und trat hinaus. Die seltsame Frau stand bereits am Weg und lächelte sie an. Kurz blieb sie stehen und zögerte. Dann lächelte auch sie und eine Freude und Helligkeit erfüllte sie, die sie das Wetter vollkommen vergessen ließ. Doch als sie gerade losgehen und zu ihr  laufen wollte, ging diese lächelnd und wortlos langsam weiter den Weg entlang und nahm ihre Melodie mit sich.       
Fassungslos stand sie im Regen. Sollte sie ihr nachgehen? Sie entschloss sich anders und trat auf den Weg, auf dem sie jedoch stoisch die andere Richtung einnahm und ratlos in das naheliegende Wäldchen stapfte. Riesengroße Pilze am Wegrand zeugten vom nassen Wetter und fühlten sich sichtlich wohl, der Wald duftete herrlich und zugleich nach Tod und Verfall. Kaum ein Vogel war zu hören, kein Tier zu sehen, ganz allein spazierte sie eine Weile, bis sie den Rückweg antrat und sich fest vornahm, beim nächsten Mal der grünen Gestalt zu folgen.       
Das nächste Mal ließ nicht allzu lang auf sich warten, denn auch am nächsten Tag regnete es ohne Unterlass, mal stärker, mal ganz sanft – aber auf eine trockene oder gar helle, sonnige Lücke wartete man vergebens. Es gab keine bestimmte Zeit, zu der sie aus dem Fenster sah, aber es schien sich jedes Mal so zu fügen, dass sie hinausschaute oder hinausging, wenn die grüne Gestalt gerade in der Nähe war. Viel Sinn ergab das nicht, aber es war, wie es war – darum sorgte sie sich nicht weiter darum, etwas zu verpassen. Ohnehin hatte sie keine Sorge, denn schließlich waren es nichts als seltsame, zufällige Begegnungen ohne Bedeutung. Fast ärgerte es sie, dass sie so viele Gedanken daran verschwendete. Und nein, heute würde sie nicht hinausgehen, sie würde im Haus bleiben und sinnvollere, zumindest aber bequemere Dinge tun, als durch den Matsch zu wandern oder am Fenster seltsame Gestalten zu beobachten.
Es war bereits früher Nachmittag, als sie in ihre sonnengelbe Lieblingsdecke gehüllt und bei einer Tasse Tee, der viel zu sehr nach Sanddorn schmeckte und den sie zudem völlig überzuckert hatte, auf dem kleinen Sofa saß und wieder meinte, diese besondere Melodie zu vernehmen. Nein, dachte sie, nein, das hat alles nichts mit mir zu tun. Sie hielt den großen Becher in beiden Händen und blies leicht hinein, so dass eine ganze Wolke aus Sanddorn-Aroma um sie herum waberte.      
Dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie stand auf und fror sofort, sobald die angewärmte Decke sie nicht mehr freundlich einhüllte. Hastig zog sie sich mehrere wärmende Schichten über, den nagenden Gedanken verdrängend, dass doch schließlich Juli war und nicht April oder Oktober. Zuletzt warf sie wieder das blaue Cape über und brauchte einige quälende Sekunden, bis sie die Position des Loches gefunden hatte, durch das sie ihren Kopf stecken sollte. Wie sie diesen ganzen Aufwand hasste – im Sommer sollte man nur eine Schicht aus dünnem Stoff tragen und sonst gar nichts! Wieder nahm sie ihre fröhlich gepunkteten Gummistiefel, die noch nicht einmal ganz getrocknet waren, von dem Abtropfschälchen an der Tür und quetschte ihre Füße hinein. So eingepackt atmete sie einmal beherzt durch – und trat vor die Tür.          
Die Frau in Grün stand wie am vorherigen Tag am Weg,  wandte sich zur Tür und lächelte sie an. Jedes Mal ging ihr dieses Lächeln wie eine Welle aus Strom durch den ganzen Körper. Zaghafte lächelte sie zurück und ging langsam und zögernd auf die Fremde zu. Wie beim letzten Mal drehte diese sich wieder zum Weg und setzte ihre Wanderung in dem ihr eigenen besonderen Gang fort, langsam, bestimmt und diese Melodie summend, die über allem schwebte.       
Dieses Mal folgte sie ihr vorsichtig, unsicher, ob die Fremde sich gestört oder verfolgt fühlen würde, oder ob genau das ihre Absicht war. Wie durch ein unsichtbares Seil verbunden, gingen sie immer weiter weg aus dem kleinen Ort, gingen weiter in die Unendlichkeit der Dünenlandschaft, deren Wege teilweise schon überschwemmt waren, so dass sie durch Pfützen und kleine Bäche waten mussten. Kurz blieb sie stehen, um ihre kurzen, nutzlosen Gummistiefel auszuziehen, denn sie waren innen bereits genauso nass wie außen. So beschloss auch sie, wie die verschwommene, grüne Gestalt vor ihr, den Weg barfuß fortzusetzen. Einen Weg, von dem sie keinerlei Ahnung hatte, wohin  er sie führen würde. Sie liefen und liefen, und sie fühlte ich auf eigenartige Weise wohl, eingehüllt durch die sanfte, helle Stimme vor ihr, geführt und warm, obwohl der Wind blies und der Regen auf sie herabprasselte. Den Duft des Meeres hatte sie schon immer geliebt und er wurde hier gemischt mit einem kaum wahrnehmbaren Rosenduft, den sie sich nicht erklären konnte. Vielleicht war sie in einem Traum gefangen, alles schien ihr so surreal, so leicht, so gleichgültig und gleichsam schön und frei. Dann endete der Weg und sie sahen direkt auf das bewegte Meer.   
Sie blieb stehen und fragte sich, wie es nun weitergehen sollte und ob sie jetzt umdrehen würden. Vielleicht könnten sie einmal nebeneinander gehen, vielleicht mal miteinander sprechen? Aber die Frau ging einfach weiter, als würde der Weg sich hier fortsetzen, ging ruhig und in unverändertem Tempo den steinigen Weg entlang, über den Sand, die Muscheln, die ersten kleinen Priele. Was tat sie da nur? Langsam und zögernd setzte auch sie sich wieder in Bewegung, aber durch den Regenschleier und die Entfernung, die sie nun hatten, war die Gestalt in ihrem grünen Cape kaum noch zu erkennen. Sie irrte herum, versuchte, die Melodie zu hören, wagte es nicht, zu rufen. Zwei Mal sah sie etwas Grünes, aber es war nur Seetang, der durch den starken Wind aufgewirbelt worden war. Sie drehte sich in alle Richtungen und suchte ihre Begleiterin, ging kopflos einfach weiter, ohne noch zu wissen, wohin. Das Wasser stieg, aber sie nahm es kaum wahr. Selbst, als das Wasser ihr das Weitergehen schon unmöglich machte, empfand sie keine Angst, keine Kälte. Sie fühlte nichts als Verbundenheit und Liebe, und je weiter sie im Meer versank, desto freier, leichter und glücklicher fühlte sie sich. Nichts war mehr wichtig. Es gab keine Furcht, keine Zukunft, keine Vergangenheit. Es gab nur noch sie, einswerdend mit dem Meer, mit der Insel. Und im Versinken stand die grüne Frau wieder vor ihr, nahm ihre Hände, küsste sie und nahm sie mit hinab.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Melanie Brell
Hamburg im August 2023