Eisenbahnspiele

 

Jetzt hör endlich auf damit und komm!

Ihre Stimme kreischte durch das Zimmer, durchdrang seine Ohren, seine Adern, seinen ganzen Körper, den gesamten Raum. Er schaute zu ihr auf.

Ich komme.

Sie rollte nur die Augen und verließ das Zimmer, sein Zimmer, seinen ganz eigenen Raum, der komplett ausgefüllt war mit Schienen, kleinen Zügen, Häusern, Bergen und Kartons mit undefinierbarem Kleinkram, Kabeln, weiteren Zügen, winzigen Menschen und Tieren. In diesen Momenten hasste er sie. Er fühlte sich klein, kleiner noch als diese Figuren vor ihm. Er fühlte sich seiner kleinen Welt beraubt und geohrfeigt. Aber er liebte sie.

 

Der Bahnhof war größer als er dachte, für so einen kleinen Ort. Die großen Züge, die schönen, rauschten vorbei, nahmen keine Notiz, und jedes Mal überkam ihn ein Schauer bei diesem Rauschen. Er liebte den kleinen Bahnhof, er liebte den großen, er liebte den Blick aus dem Zugfenster wie den Blick auf die Züge. Diese Liebe war in seinem bisherigen Leben die einzig konstante, sie hatte ihn nie enttäuscht, sie war immer da, sie hielt ihn gefangen.

Er zog seinen Regenmantel weiter zu und wartete.

Der Zug fuhr ein, hielt, und durchgefroren und klamm stieg er ein. Viele Plätze waren frei, er ließ sich einfach leiten, ging weiter den schmalen Gang entlang, sah ab und zu in die überheizten Abteile, sah Menschen. Menschen mit Büchern. Fremde Menschen. Fremde vertraute Menschen. Kinder. Er sah Butterbrote, er hörte Musik, er hörte Stimmen.

Schließlich öffnete er eine Abteiltür und setzte sich gegenüber einer schlafenden Frau. Er zog den Mantel aus, akkurat hängte er ihn an einen der Haken, strich sich seine Hose glatt und nahm wieder Platz.

Er saß. Sie schlief.

Beide erwachten beim Eintreten des Kontrolleurs. Beide öffneten erschrocken die Augen und lächelten sich verschämt an.

 

Eben war das Abteil noch leer. Sie starrte in den Regen, sie sinnierte über ihre Arbeit, über Sinnlosigkeit und Vergeudung, dann musste sie eingeschlafen sein.

Wessen Augen waren das dort? Hatte er sie beobachtet? Sie war verunsichert. Weniger durch seinen Blick, als vielmehr durch die seltsame Spannung, die entstanden war. Sollte sie jetzt einfach wegsehen? Ihr Buch herausholen, in ihrer Tasche nesteln?

Guten Tag!

Ich bin am kleinen Bahnhof eingestiegen.

Ja, ich habe wohl geschlafen.

Ja, ich auch.

Beide lächelten. Beide zählten die Regentropfen, die merkwürdig schräg am Fenster entlangglitten.

 

Am Bahnsteig sah er ihr noch eine Weile nach. Sie sah unbeholfen aus, als müsste sie jeden Moment stolpern, ging dabei aber forsch uns selbstbewusst, als sammle sie im Gehen Kraft für eine schwere Aufgabe, einen Krieg, den sie gewinnen musste. Alles an ihr verwirrte ihn und berührte ihn zugleich.

Er stand einfach da, während sie sich weiter und weiter entfernte, bis er sie kaum noch sehen konnte.

Der Zug war längst wieder abgefahren, die Reisenden waren verschwunden, der Bahnsteig war leer. Er stand da und dachte nach. In seiner rechten Hand eine Art Strickjacke, ein schwarzes Stück Stoff mit orange abgesetzten Nähten. Er wollte ihr nachlaufen, wenigstens nachrufen, aber er war wie versteinert, er blieb einfach stehen, in seiner Hand ihre Jacke.

Langsam, wie abwesend, öffnete er seine kleine Reisetasche, legte das Kleidungsstück behutsam hinein und ging ins Bahnhofsrestaurant, wo er sich einen Kaffee bestellte.

 

Sie ging durch die Straßen der Stadt, fast angriffslustig. Diesmal würde es klappen. Alles würde anders werden, ihr Leben würde wieder einen neuen Sinn bekommen. Das Gespräch klang vielversprechend. Sie war müde geworden, sie war zu lange gereist und wollte endlich ankommen.

Sie suchte nach ihrem Stadtplan. Es musste hier irgendwo sein. Nummer 97. Noch ein paar Häuser weiter. Hier. Stolz und fast euphorisch trat sie ein.

 

Der Kaffee schmeckte grauenvoll. In diesen Momenten vermisste er seine eigene Kaffeemaschine, die er damals aus Italien mitgebracht hatte. Es war ein komplett misslungener Urlaub, einmal mehr ging eine Liebe für ihn zuende. Aber er hatte doch zumindest die Maschine. Die Maschine blieb ihm länger als diese Liebe. Wie seine kleinen Züge blieb sie ihm treu.

 

Sie verließ das Haus, das ihr nun grau und hässlich erschien. Ein frischer Wind war aufgezogen und sie suchte nach ihrer Jacke. Nervös und kopflos wühlte sie in ihrer Tasche, sah sich um, als müsste die Jacke irgendwo liegen oder hängen. Der Gedanke, nun auch noch ihre Lieblingsjacke verloren zu haben, nahm ihr auch noch den letzten Rest Zuversicht. Sie überlegte nicht einmal, wo sie sein könnte, sie war weg, verschwunden, wie diese Chance.

Sie setzte sich in einen Hauseingang und weinte.

Die Passanten nahmen keinerlei Notiz von ihr. Zeit verging. Minuten, Stunden, sie wusste es nicht. Sie fror. Die Traurigkeit wich der Wut.

Wenn nicht so, dann eben anders! dachte sie, während sie abrupt aufstand und ziellos in Richtung Innenstadt marschierte.

Sie erkannte ihn nicht gleich, als sie am kleinen Modellbahnladen vorbeiging. Irgendwas jedoch ließ sie nach einigen Schritten innehalten. Sie drehte sich um und sah ihn in dem Geschäft verschwinden. Oder bildete sie sich das ein? Sie überlegte. Warum eigentlich nicht? Zielstrebig ging sie zurück und betrat ebenfalls das staubige kleine Lädchen.

Es war nicht sehr einladend. Alle Wände standen bis oben hin vollgepackt mit kleinen Kartons. Selbst auf der Theke Kartons und kleine gläserne Vitrinen mit seltsamen Bauteilen und kleinen Schachteln. Eine große Vitrine voller kleiner Eisenbahnen, die in erstaunlicher Weise ihren echten Vorbildern glichen. Im Laden war es völlig still, bis auf das leise Surren einer Modellbahn, die sich im hinteren Bereich munter durch eine Alpenlandschaft schlängelte. Sie blickte sich um.

 

Er blickte sich um. Sollte er endlich finden, was er so lange gesucht hatte, oder war auch diese kleine Reise wieder vergeblich gewesen? Dies war die dritte Stadt, in der er suchte. Sein Blick glitt über die Regale, inspizierte Schachteln und Nummern, er war ganz konzentriert. Er sah die anderen Menschen nicht, war völlig vertieft in seine Suche. Er schaute sie an, ohne sie zu sehen. Dann stutzte er, sah sich wieder um, erkannte sie.

 

Ich habe – Sie sind hier hineingegangen und da dachte ich –

Sie lächelte entschuldigend.

Er war überrascht, erschrocken, dann erfreut. Wie konnte das sein? Was tat sie hier in seiner Welt?

Sie ahnte nicht, dass sie eine Grenze überschritten hatte.

Ich habe etwas, das Ihnen gehört.

Er suchte nach der Jacke, hielt sie ihr zögernd entgegen.

Sie nahm die Jacke und blickte ihm in die Augen.

Gemeinsam verließen sie das Geschäft. Gemeinsam stiegen sie in den Zug.

 

Wie lange hatte die Fahrt gedauert? Wie oft hielt der Zug bis sie beide in seiner kleinen Stadt ausstiegen? Wie kam es, dass sie hier war? Wie lange war es her?

Sie hatten auf dieser Fahrt zunächst nicht viel gesprochen. Sie beschloss einfach mitzugehen, als er sich auf den Weg zum Bahnhof machte. Sie tranken noch einen Kaffee im Bahnhofsrestaurant und sie stieg einfach in seinen Zug, setzte sich ihm gegenüber. Der Zug setzte sich zäh in Bewegung und wieder, wie schon am Morgen, sahen beide aus dem Fenster. Diesmal regnete es nicht, eine bunte, sonnige Landschaft zog an ihnen vorüber und beide genossen diesen Anblick, die Geschwindigkeit, das nicht hier sein und nicht dort.

Nach einer Weile begann er vorsichtig ein Gespräch. Er fragte, was sie in der Stadt gemacht hatte. Damit löste er einen Schwall an Worten und Emotionen aus. Die Wut über das Gespräch stieg wieder in ihr auf und sie erklärte, alles solle nun anders werden, so werde es nicht weitergehen. Sie wolle neu beginnen, irgendwie, irgendwo. Wo er wohne. Was er tue.

Und dann erzählte er. Nicht so emotionsgeladen wie sie, aber er erzählte, erzählte so viel wie lange Zeit nicht mehr. Immer wieder trafen sich ihre Blicke in einer Weise, die sie beide verlegen machte.

Der Zug hielt, Menschen stiegen ein, gingen die Gänge entlang, sprachen, schwiegen. Nur einmal setzte sich ein Mann zu ihnen ins Abteil, aber sie nahmen ihn kaum wahr.

Schließlich hielt der Zug erneut und gemeinsam stiegen sie aus.

Seither war sie bei ihm geblieben.

 

Sie war lange Zeit fasziniert von ihm, seiner Welt, seinen kleinen Zügen und Bergen und Menschen, von seiner Art, damit zu leben. Es war kein Spiel, niemals spielte er, es war ein Teil von ihm. Selten ließ er sie daran teilhaben. Er ließ sie draußen aus diesem Teil seines Lebens, und obwohl diese Modellbahn sie nicht im geringsten interessierte, fühlte sie sich betrogen.

Unzählige Male sah sie ihm zu, manchmal, während sie bei ihm saß, oft, ohne dass er es bemerkte.

Sobald er die Tür zu diesem Raum schloss, betrat er ein anderes Leben, war er ganz bei ihr. Sie führten lange Gespräche, sie gingen aus, und manchmal saßen sie im Bahnhofscafé oder einfach am Bahnsteig und schauten sich Züge an und Menschen oder erinnerten sich. Sie waren glücklich in diesen Momenten.

Aber oft kam er nach Hause und betrat sofort seine zweite Welt, sprach nicht, grübelte, bastelte und wurde zu einem seiner Miniaturfiguren in seiner kleinen hügligen Landschaft mit all den Zügen. Einige Male kam es vor, dass sich die Welten überschnitten, sie schrammten dass es knirschte und knallte, wenn er zusammen mit Zeit und Raum ebenso Verabredungen und den Blick auf die Uhr vergaß.

Anfangs lächelte sie darüber, sah sie ihn als spielendes Kind, liebte sie ihn gerade in solchen Augenblicken. Sie erfand Ausreden, warum sie zu spät erschienen oder ganze Termine vergaßen. Aber dieses Lächeln wurde kleiner und kleiner und verschwand irgendwann völlig aus ihrem Gesicht. Schleichend, anfangs kaum spürbar, wuchs ihre Ungeduld und eine Traurigkeit, die sie von innen auffraß.

 

Sie hatte ein Bad genommen und fühlte sich entspannt und guter Dinge, denn sie freute sich sehr auf diesen Abend. Sie wollte sich Zeit nehmen und rechtzeitig losgehen, sie wollte nichts verpassen.

Nur einen Augenblick, hatte er gesagt und ging zu seiner Modellbahn. Der Augenblick dauerte schon lange, sehr lange und langsam wurde sie nervös. Gleich, immer wieder gleich.

 

Jetzt hör endlich auf damit und komm!

Ihre Stimme kreischte durch das Zimmer, durchdrang seine Ohren, seine Adern, seinen ganzen Körper, den gesamten Raum. Er schaute zu ihr auf.

Ich komme.

Sie rollte nur die Augen und verließ das Zimmer, sein Zimmer, seinen ganz eigenen Raum, der komplett ausgefüllt war mit Schienen, kleinen Zügen, Häusern, Bergen und Kartons mit undefinierbarem Kleinkram, Kabeln, weiteren Zügen, winzigen Menschen und Tieren. In diesen Momenten hasste er sie. Er fühlte sich klein, kleiner noch als diese Figuren vor ihm. Er fühlte sich seiner kleinen Welt beraubt und geohrfeigt. Aber er liebte sie.

 

Sie verließ das Haus, stieg langsam die Treppe hinab, ging durch die Straßen. Sie sah niemanden, sie fühlte nichts. Sie ging durch die kleine Stadt, die nie ganz ihre geworden war und wieder hinaus aus der Stadt, zum Bahnhof. Die Dämmerung und das orangefarbene Licht der Bahnhofslaternen ließen die Schienen seltsam leuchten. In der Ferne sah sie einen Zug ankommen. Sie blieb stehen und wartete. Als der Zug eingerollt war, zögerte sie kurz, sah sich um. Dann stieg sie ein und fuhr davon.

 

 

 

 

 

 

(Dez. 2004)