„Ist alles im Wagen?“ ruft sie aus dem Küchenfenster den Umzugshelfern zu. Sie sieht sich noch einmal um, geht mit gemischten Gefühlen durch jeden
Raum, schaut in jede Ecke. Die Möbel, die Dinge, die alle ihren Platz hatten, haben sich über Jahre in ihr Bewusstsein gebrannt, so dass es fast wirkt, als stünden sie alle noch dort.
Gleichzeitig wirkt der Raum verändert durch die völlige Leere.
Das war es nun also, wieder ein Kapitel abgeschlossen. Wieder verwandelt sich ein Zuhause in Räume, in Wände und Böden, in eine Tür, die zum letzten
Mal zugezogen wird.
Sie war so sicher, hier angekommen zu sein und Wurzeln zu schlagen, ja, sie hatte Wurzeln geschlagen und ein Teil von ihr wunderte sich noch immer,
was sie antrieb, auch diese zarten Wurzeln wieder zu kappen und sich umzutopfen. Sie hatte in dieser Stadt unendlich viel erlebt, war als noch halbfertiger Flattervogel , wenn auch schon mit
leicht gestutzten Flügeln und einigen überstandenen Abstürzen, hier an den Ufern des großen Flusses gelandet, hatte sich kräftig geschüttelt und Beine bekommen. Beine und eine neue Stimme. Eine
neue Stimme und neue Flügel. Sie liebte diesen Fluss, diese Stadt mit all ihren bunten Seiten, mit all ihrer Sanftheit und Schönheit und den entspannten Menschen, die hier so viel leiser
waren als ihre Nachbarn flussaufwärts. Sie liebte ihren Eistütenturm mit den farbigen Punkten und seinem Geheimnis und die stolzen, starken Brücken. Sie war hier zu Hause. Und doch, wie schon vor
vielen Jahren in der anderen großen Stadt, gab es einen Zeitpunkt, zu dem sich ein Tor zu schließen schien und ihr sagte, es geht zu Ende, deine Zeit hier war nun erfüllt genug – geh weiter und
behalte uns im Herzen.
Nie hatte sie nach dem Warum gefragt, sie hatte die Zeichen verstanden und war gefolgt und jedes Mal tat es weh und jedes Mal tat sich ein neues Tor
auf, als habe es auf sie gewartet, und ließ sie ein.
Dies neue Tor stand nun dort, wo sie ursprünglich auf die Reise gegangen war, als sie noch keine Tore sehen und Zeichen deuten konnte. Auch diese
Stadt hatte einen großen Fluss, aber sie hatte ihn nie wirklich liebgewonnen. Sie hatte sich dort nie ganz willkommen gefühlt. Nun musste sie dem Ruf folgen und durch das alte, neue Tor gehen,
der grauen Stadt eine Chance geben und sie ganz neu für sich erschließen.
Die Würfel sind nun also gefallen, denkt sie, die Kartons gepackt und verladen, die paar alten Möbel so gut es geht auseinandergebaut, auf dass sie
sich ein weiteres Mal zusammensetzen lassen am neuen Ort. Wie viele Tränen sind hier ins Parkett eingezogen, überlegt sie, glückliche und traurige. Wie viele Stimmen, wie viel des Gesanges und
Lachens ist für immer in den Mauern gespeichert?
Sie streicht mit der Hand über die Wände, hält kurz inne und eins zwei Tränen bahnen sich ihren Weg Richtung Nasenspitze und Fußboden. Ob aus
Traurigkeit oder Dankbarkeit oder aus purer Sentimentalität vermag sie nicht zu sagen. Dann geht sie zur Wohnungstür, tritt heraus wie tausende Male zuvor und zieht sie zu, ohne abzuschließen.
Ihre Schlüssel liegen auf der Fensterbank und bleiben dort zurück.
Vor dem Haus steht der voll beladene Transporter mit all ihren Sachen. Eigentlich gar nicht so viel. Ihr Leben passt in einen mittelgroßen
Transporter. Vorne drei Sitze, zwei davon besetzt. Sie steigt ein und der Wagen startet mit lautem Motor.
Hinter dem Wagen ist etwas aus einem offenen Karton gefallen. Ein Holzschild mit dem Schriftzug „Sweet Home“, das sie geschenkt bekommen, aber nie
aufgehängt hatte. Der Verlust fällt niemandem auf.