Piksieben
„Du stehst da wie Piksieben.“
Genau so war es. Sie stand da, mit dem Rücken zum Fenster, und mit großen Augen starrte sie ihn an.
Hatte er das jetzt wirklich gerade gesagt?
Zwei Jahre waren sie schon zusammen, glücklich zusammen, mitunter fast symbiotisch. In manchen Momenten fühlten, dachten, tickten sie so synchron, als gäbe es eine unsichtbare Standleitung zwischen ihnen oder als seien sie ein einziger Körper. Und auch nach zwei Jahren fand sie das kurios, waren sie doch auch so verschieden – sie mit kindlich leichtem Gemüt, regelmäßig umspült von Wellen der Schwermut, aber dennoch wenig wirklich zu schwer nehmend. So oft hatte sie erfahren, dass alles sich fügt, dass es immer weitergeht, dass man in neue Situationen kopfüber hineinhüpfen muss, um weiterzukommen, neue Farben in sich zu entdecken und zu wachsen. Sie pfiff aus tiefster Seele auf Konventionen und Regeln, die ihr nicht einleuchteten.
Er war ruhig und ernst, scheu fast und unsicher – und dann wieder stark und voller Selbstvertrauen. Er wusste, wo er stand und stehen wollte, und dazu gehörte, dass er Veränderungen und Abweichungen von seinen Plänen nicht sehr schätzte. Wo sie über kleine, alltäglich Dinge lachte oder weinte, war er eher der stille Beobachter, der wahrnahm, der verstehen wollte.
Nicht immer den Ausdruck, aber ihr tiefes Empfinden teilten sie und beide machten gern Ausflüge in die Welt des anderen.
Als der Sommer zuende ging und es abends merklich frischer und vor allem dunkler wurde, beschlossen sie, das Kartenspiel herauszuholen, das ihnen Freunde geschenkt hatten. Es war ein wenig subtiler Hinweis, endlich mal ein paar Spiele zu lernen, damit es nicht immer an ihnen scheiterte, wenn eine Runde Skat oder Rommé anstand.
Es war lange her, dass sie sich mit Karten beschäftigt hatte. Skat hatte sie ohnehin nie richtig begriffen, leichte Spiele spielte sie mit, aber eine große Leidenschaft war nie daraus entstanden.
Kartenspiele waren eine warme Kindheitserinnerung an ihr Elternhaus, an ihre Familie und die lang verlorene Geborgenheit einer anderen Zeit.
Nun saßen sie seit Stunden am Tisch, die zweite Flasche Rotwein war schon angebrochen, und übten Regeln und Spielzüge.
„Oh je,“ dachte sie, „wir spielen Karten, sehen uns Tierfilme an und tragen Funktionsjacken. Hätte mir das jemand vor wenigen Jahren erzählt, als ich noch ganz woanders lebte – ganz anders lebte – ich hätte es nicht geglaubt.“ Nur eins war anders als all die Jahre zuvor: Diese beschauliche Spießigkeit jagte ihr keine Angst ein. Vielleicht war genau das das Einzige, das ihr Angst einjagte. Sie hatte intensiv gelebt, viel gesehen, Städte erobert, sie hat Liebesschwüre gehört, Freundschaftsringe getragen, Zukunftsluftschlösser gebaut, selbst eine Hochzeit geplant – und dieser Mensch wurde nicht müde zu betonen, dass er keinesfalls gedenke, je zu heiraten, dieser Mann hat ihr in zwei Jahren niemals seine Liebe gestanden. Trotzdem fühlte sie sich vollkommen geliebt, geborgen und angekommen. Trotzdem vermisste sie nichts. Es war einfach alles gut, so wie es nie zuvor gut und richtig war.
„Also nochmal: wann ist es ein Rommé Hand?“
Er hatte es ihr schon erklärt. Und dennoch war in seinem Blick nichts Herablassendes, nichts Ungeduldiges. Ruhig erklärte er es ihr noch einmal. Genau dafür liebte sie ihn.
Ihr rauchte der Kopf von all den Begriffen, Zahlen und Zügen.
„Lass mal eine Pause machen“, sagte sie und schnappte sich das Rotweinglas. Am Fenster steckte sie sich eine Zigarette an. Das knisternde Geräusch der Glut, der Rauch nach dem ersten Zug – so sehr er es hasste, wenn sie rauchte, so sehr genoss sie das kleine Lagerfeuer zwischen ihren Fingern. Das Fenster war noch weit geöffnet, noch war der Sommer da und trotz der einfallenden Dunkelheit war es noch nicht zu kalt.
Ihr Blick fiel auf den Ausdruck seiner Steuererklärung auf dem kleinen antiken Schreibtisch am Fenster, der mehr eine Ablage war, als dass an ihm viel geschrieben wurde.
„Hast Du sie fertig?“ Sie wusste, dass er es hasste, sich damit zu beschäftigen. Ihr ging es genauso. „Ja, sie ist fertig und ich denke, es wäre vernünftig, wenn wir vielleicht heiraten.“
Sie stand da mit dem Rücken zum Fenster und mit großen Augen starrte sie ihn an. Hatte er das jetzt wirklich gerade gesagt?
„Du stehst da wie Piksieben.“
Ja, so stand sie da, wie Piksieben – und der Vergleich mit einer dummen Spielkarte nach dem wohl unromantischen Heiratsantrag, der nur möglich war, war so absurd, dass sie lachen musste.
Sie nahm die Piksieben vom Tisch, stellte sie auf die Fensterbank und sie flog, weil eine Piksieben eben nicht stehen kann, in kreisenden Bewegungen hinaus Richtung Straße.
Sie lachte und lachte und Tränen liefen ihr über die vom Rotwein geröteten Wangen.
„Ja,“ lachte sie, „ja, das wäre vernünftig.“